Birgit Huebner

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singende

Musik besitzt im allgemeinen die Kraft, im unvoreingenommenen Hörer den Ausdruck von Stimmungen, Gefühlen und Affekten zu evozieren. Zunächst nur als abstrakte musikalische Form empfunden, kann sich diese jedoch im Geiste zu konkreten Bildern verwandeln. Der Klang ruft eine innerliche Vibration hervor, die wiederum im Kopf des Zuhörers eine bestimmte Vorstellung entstehen lässt. Nichts anderes geschieht bei der akustischen Aufnahme eines Wortes. Gelingt es dem Hörer, das Wort vom bezeichneten Gegenstand gedanklich zu lösen, verliert sich der äußere Sinn der Benennung und das Artikulierte wird zum reinen Klang entblößt. Sprache und Musik liegen als verbale Kommunikationsmöglichkeiten demnach sehr nahe beieinander und bedingen sich gegenseitig. Eine direkte Kontaktaufnahme zwischen Sprechendem und Zuhörendem geschieht allerdings nur im persönlichen Gespräch, selten aber im Theater zwischen Vortragendem und Publikum.

Indem die Künstlerin Birgit Huebner den Besucher mit überdimensional großen Portraits von singenden Jugendlichen konfrontiert, hebt sie jedoch die zuvor genannte Distanz zwischen Agierendem und Betrachtendem auf. Vor rotfarbenem Hintergrund posierend blickt Letzterer in drei Gesichter, die ihm singend antworten. Im Gegensatz zum Erscheinen und wieder Verschwinden der Personen und Dinge auf der Bühne, teilt sich dem Betrachter das Thema der drei fotografierten Portraits langsam und intensiv mit. Derart massiv treten ihm halb oder weit geöffnete Münder und Augen entgegen, dass er sich ihnen in keiner Weise zu entziehen vermag. Die Künstlerin hat die progressive Handlung, in der die beiden Jungen und das Mädchen ihren jeweils gesungenen Vortrag zurecht feilen, als Momentaufnahme festgehalten und damit die ursprüngliche Bewegung des Ablaufs brüsk angehalten. über die Darsteller ist aber nicht nur das „Leichentuch der Pose“ (1) geworfen worden, sondern sie sind auch akustisch verstummt. Dennoch scheinen die überaus gestenreichen Gesichter in ihrer enormen Expressivität und aufgrund des übermenschlich großen Formates den Besucher geradezu anzurufen. Darüber hinaus lassen die unterschiedlich gerundeten Münder und Lippen der Singenden drei verschiedene akustische Laute im Geiste ertönen, vergleichbar den oben genannten Bildvorstellungen, die eine Melodie oder einzelne Worte im Zuhörer erzeugen können. Roland Barth formulierte diesen Zustand der Stille, diese geistige „Musik“ überaus treffend, indem er sagte, „die Augen schließen bedeutet, das Bild in der Stille zum Sprechen zu bringen.“ (2) Die rote Kulisse hilft der Imagination dabei auf die Sprünge, da die klassische Farbe eines Bühnenvorhangs einerseits die Atmosphäre des Theaters, andererseits aber auch die illustre Gesellschaft vergangener Zeiten im pompösen Ambiente des Schlosses wachruft. Immer wieder ist die Vorstellungskraft des Betrachters angesprochen, der, in der Hoffnung, seinen Blick vom Musikzimmer aus durch die riesigen Rundbogenfenster in der Ferne schweifen zu lassen, diesen verhängt vorfindet.

Das Fenster, Sinnbild für die Dichotomie von äußerer Welt und innerer Vision, von physiologischem und kognitivem Sehen, wird damit zum symbolischen Bildträger der Fotoarbeiten, gleichzeitig aber auch zum Mittler zwischen vorgefundener Architektur und deren konzeptueller Einbeziehung durch die Künstlerin. Der für Birgit Huebners Werk symptomatische Begriff des Gesamtkunstwerkes lässt sich gerade bei dieser Raumarbeit in vielerlei Hinsicht deuten. Neben der bewussten Auseinandersetzung mit dem historischen und keineswegs neutralen Ort des ehemaligen Musikzimmers, fokussiert sie ihren fotografischen Blick auf das menschliche Antlitz, welches sie zumeist in ungewöhnlichen Close ups wieder gibt. Und eben diese beinahe erdrückende Nähe, diese absolute Frontalität bewirkt, dass die drei Portraits etwas Maskenhaftes ausstrahlen, etwas, das den wahren Augenblick der Zwangsläufigkeit spiegelt. Vergeistigt im Moment der Konzentration, rufen die den Betrachter fixierenden Blicke sowie die singenden Münder alles Innerliche nach draußen, dem Betrachter entgegen. Der Mundraum modelliert den aus der Lunge kommenden Luftstrom zu einem tonalen Gebilde und gewährt gleichsam einen auffordernden Einblick in die Kavität, also wiederum in das Innere des Portraitierten. Diese stete Wechselwirkung zwischen Verbalem und Nonverbalem, zwischen Architektur und Fotografie, zwischen Stillstand und Bewegung und nicht zuletzt zwischen Innen und Außen markiert einen überaus wichtigen Aspekt der Arbeit, der zudem wie ein roter Faden durch das gesamte Oeuvre der Künstlerin wandert.

Sich in direkter Konfrontation mit dem Werk befindend, ist der Betrachter immer wieder aufs Neue aufgefordert, seinen Standpunkt im Raumkontext, aber auch bezogen auf die sinnliche Wahrnehmung von KörperSprache und deren Kommunikationsformen zu hinterfragen. Angesichts dieser vielschichtigen Komplexität hat Birgit Huebner eine staunenswerte, das gesamte Reich der Sinne umfassende Symbiose geschaffen.

Nicole Heusinger

(1) Roland Barth:
Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989, S. 24
(2) Roland Barth:
ebd. S. 65

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